Die wahre Geschichte von Criesu

oder wie wir zu unserem Namen kamen

Vor langer, langer Zeit, als Oberon König der Feen war, gab es in den tiefen Wäldern rund um Taunusstein noch Fabelwesen wie Zwerge, Riesen und Einhörner. Niemand hatte je ein solches Geschöpf mit eigenen Augen gesehen, aber jeder fürchtete den Zorn der Zwerge, denn man sagte, dass sie sehr gemein und hinterhältig seien.

Zu dieser Zeit also begab sich ein Lehrer mit seinen Schülern in jene Wälder. Er wollte ihnen beibringen, Bäume an der Rinde zu erkennen, Vögelgesänge zu unterscheiden und zuckersüße Beeren im dichten Unterholz zu finden. Sie verlebten eine wunderbare Zeit!
Als sie von ihrer Arbeit aufblickten, war die Sonne schon fast untergegangen und durch die Baumstämme konnten sie den Abendstern sehen, der in einer aprikosenfarbenen Wolke aufleuchtete. Also liefen sie in der Dämmerung in die Richtung zurück, aus der sie meinten, gekommen zu sein. Doch je länger sie liefen, desto dichter schlossen sich die Bäume um sie und statt der Lichter ihres vertrauten Dorfes Taunusstein sahen sie nur den finsteren Wald vor sich.

Und so geschah es denn, dass die Kinder und ihr Lehrer sich im Wald verirrten und den Weg nach Hause nicht mehr fanden.
Als sie sich auf einer kleinen Lichtung zusammenfanden, um einen Moment auszuruhen, sahen sie nichts als die gefährlichen, dunklen Schatten der Bäume um sich. Und auf einmal trat aus der Dunkelheit des Waldes ein Zwerg hervor.  Er sah furchteinflößend aus mit großen, spitzen Ohren und einer langen Schnauze. Seine Haut hatte einen grünen Schimmer und sah glitschig aus wie die eines Frosches. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der freudigen Erregung. Die Kinder und ihr Lehrer waren sich sicher, daß dieses Monster sie im nächsten Moment verspeisen würde. Der Zwerg kam langsam auf sie zu, die dunklen Augen blickten vom einen zum nächsten. Auf einmal begann er zu sprechen. Seine Stimme klang rauh und blechern. "Hallo," sagte er, "ich bin Criesu. Ihr scheint Euch in diesem Wald verirrt zu haben. Es ist schon spät, wißt ihr, und es ist gefährlich zu dieser Stunde im Wald, wißt ihr? Kommt mit mir nach Hause, ich biete euch ein Dach über dem Kopf, wißt ihr?" Voller Angst überlegten die Kinder und ihr Lehrer hin und her. Sollten sie das Angebot annehmen? Und wenn es eine Falle war?

Letztendlich blieb ihnen gar nichts anderes übrig als mit Criesu zu gehen. Sie schlotterten vor Furcht, obwohl ihr Weggenosse doch eigentlich so friedlich tat. Aber man sagte, Zwerge wären immer zuerst ganz freundlich - und dann würde man doch im Kochtopf enden. Nach einem ihnen eine Ewigkeit erscheinenden Marsch über Stock und Stein kamen sie zu einer kleinen Holzhütte. Sie war von oben bis unten von Efeu bewachsen, nur die Tür und ein Fenster waren noch frei. "Kommt nur herein", sagte Criesu freundlich. Vor Angst eng aneinander- gedrückt gingen die armen Seelen ins Haus. Es sah gemütlich aus - bis auf den großen Topf, der auf einer Feuerstelle in der Mitte des Raums stand. "Bitte entschuldigt die Unordnung," sprach der Zwerg schulterzuckend, "ich hatte keine Gäste erwartet, wißt ihr. Kann ich euch etwas zu trinken anbieten?" Obwohl die Kinder dem Zwerg noch immer nicht trauen wollten, baten einige um Wasser. Auch der Lehrer bat um ein Glas. Gierig tranken sie das kühle Naß, das ihnen Criesu kurz darauf gab. "Und jetzt erzählt einmal, was ihr so spät noch hier sucht! Ich bin sehr neugierig, wißt ihr!" sprach der Gastgeber. Die ersten Kinder hatten ein kleines bißchen Vertrauen geschöpft zu dem gruselig aussehenden Wesen, und so erzählten sie ihre Geschichte.
Criesu hörte geduldig zu, legte den Kopf von einer Seite auf die andere und musterte wieder ein Kind nach dem anderen. Schließlich sprach er: "Ihr seht hungrig aus, und müde, wißt ihr. Soll ich etwas kochen?" "Jetzt hat unsere letzte Stunde geschlagen," dachten die Kinder.

Doch Criesu schien gar nicht daran zu denken, einen von ihnen zur Vorspeise zu reichen. Er nahm einige Tongefäße von dem einfachen Holzregal, warf ein paar Kräuter in den Topf mit kochendem Wasser und setzte sich wieder zu seinen Gästen. Als die ihn etwas verwundert und ängstlich anstarrten, erklärte er schnell: "Die Suppe ist gleich soweit! Wenn man die Kräuter nicht lange genug kochen läßt, schmecken sie bitter, wißt ihr!" Und mit einem empörten Grunzen wendete er sich an den Lehrer: "Sagen sie bloß, das haben sie ihren Schülern nicht beigebracht!" Nach einem Moment der völligen Stille brach auf einmal schallendes Gelächter aus. Auch Criesu mußte lachen, und sein Lachen klang wie ein wunderschönes Glockenspiel. Die Kinder erklärten schüchtern, warum sie seit ihrer Begegnung so verängstigt waren, und als sie geendet hatten, war es Criesu, der in Gelächter ausbrach. "Nein," lachte er, während er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, "ich bin unter die Vegetarier gegangen!" Wieder herrschte einen Moment entsetzte Stille, dann wurde man sich aber der glücklichen Lage bewußt und das fröhliche Geschnatter der kindlichen Münder setzte wieder ein.
Nachdem Criesu ihnen eine wohlschmeckende Suppe gereicht und sie noch lange geredet hatten, zog sich jeder auf sein Lager zurück, um ein bißchen zu schlafen.

Am nächsten Morgen weckte Criesu sie zeitig. "Ich bringe euch an den Rand des Waldes, bevor die anderen Zwerge euch bemerken", sprach er und trieb zur Eile. "Ihr müßt jetzt ganz leise sein!" sagte er noch, bevor er die schützende Holztür öffnete und die Gruppe herausführte. So leise wie möglich schlichen die Kinder hinter ihrem Beschützer her, zuckten bei jedem Geräusch zusammen. Doch dank Criesu gelang es ihnen, ungesehen aus dem Wald zu fliehen. Als sie das grüne Gras der Wiesen vor Taunusstein sahen, waren sie mehr als glücklich. Schnell verabschiedetet sie sich von Criesu und rannten ausgelassen auf das Dorf zu. Criesu blieb noch einen Moment am Waldrand stehen und sah ihnen nach, dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit des Waldes.

Es ging einige Zeit ins Land, bis der Lehrer und seine Schüler auf die Idee kamen, eine Theatergruppe zu gründen. Sie wollten ihre Begegnung mit Criesu weitererzählen, wollten alle an ihrem Glück teilhaben lassen. Ein Name war schnell gefunden: Criesu. Sie bauten sich eine Bühne und traten auf, wo immer sie Gelegenheit hatten.
Auf einem Fest, das nahe dem Walde gefeiert wurde, spielten sie ihr Stück mit besonderem Elan. Und während sie spielten und über die Zuschauer hinweg zum Waldrand blickten, schien es ihnen, als ob es zwischen den Bäumen grün funkeln würde. Wie tausend Edelsteine, die von der Sonne beschienen werden. Und dann vernahmen sie ein glockensüßes Lachen... Aber das ist eine andere Geschichte.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so spielen sie noch heute ihre Geschichten von Criesu!